Friedrich Engels hätte am 28. November dieses Jahres seinen 200. Geburtstag gefeiert. Aus Anlaß des runden Geburtstages des großen kommunistischen Theoretikers und Revolutionärs, hat die Rosa-Luxemburg-Stiftung eine Reihe von Initiativen ergriffen, um Leben und Werk von Friedrich Engels zu würdigen und einem breiteren Publikum zugänglich zu machen.[1]
Solche Initiativen sind äußerst wichtig für die gesamte politische und gesellschaftliche Linke. In den heutigen Zeiten, wo Irrationalismus, Verschwörungstheorien und Rassismus sich in den Köpfen vieler Menschen eingenistet haben, ist humanistische Aufklärung wichtiger denn je. Krude Vorurteile, die tiefe Wurzeln geschlagen haben bis in breite Segmente der subalternen Klassen und Schichten, müssen zurückgedrängt werden durch Vermittlung von Einsicht in die ökonomischen Triebkräfte, die im Kapitalismus wirken, und in die sich daraus ergebenden Ausbeutungsmechanismen.
Die Hegemonie aufklärerischer, humanistischer und sozialistischer Ideen in breiten Volksschichten ist eine Voraussetzung für deren selbstbestimmtes Eingreifen in die ökonomischen, sozialen, politischen und kulturellen Prozesse. Die Auseinandersetzung mit dem Lebenswerk von Friedrich Engels erweist sich als sehr hilfreich zur Herstellung einer solchen Ideenhegemonie.
Der Bescheidene
„Ich habe mein Leben lang das getan, wozu ich gemacht war, nämlich die zweite Violine spielen, und glaube auch, meine Sache ganz passabel gemacht zu haben. Und ich war froh, so eine famose erste Violine zu haben wie Marx.“[2]
Das famose Zitat von Friedrich Engels, das von seiner sprichwörtlichen Bescheidenheit zeugt, wird der Wahrheit keinesfalls gerecht.
Die Ankündigung der Festveranstaltung der Rosa-Luxemburg-Stiftung aus Anlaß des 200. Geburtstages von Friedrich Engels, die wegen der Corona-Pandemie ins Netz verlegt werden mußte, kommt der Wahrheit viel näher:
„Friedrich Engels war Mitbegründer des wissenschaftlichen Sozialismus, Kämpfer für Demokratie in der Revolution 1848/49, auch mit der Waffe in der Hand, führender Aktivist der Ersten Internationale und unangefochtene Autorität der Zweiten Internationale. Er hat vor dem großen Krieg der europäischen Mächte gewarnt und die russische Revolution vorhergesehen. Sein Interesse galt dem Kommunismus in der Geschichte und der Verbindung von Geschlechterverhältnissen, Privateigentum und Staat. Er wollte die Dialektik der Natur begreifen, um emanzipatorisch und solidarisch in die Widersprüche der Verhältnisse zwischen den Menschen und zu ihrer irdischen Heimat einzugreifen. Ohne ihn wäre Marx’ Werk unmöglich gewesen und auch nicht bewahrt worden. Der Marxismus war im Ursprung ein Engels-Marx-Ismus. Wer heute von Sozialismus redet, kann und darf Engels nicht vergessen.“[3]
Der Pionier
In der Tat hat die Frühschrift von Friedrich Engels aus dem Jahr 1845 „Die Lage der arbeitenden Klasse in England“[4], welche die sozialen und wirtschaftlichen Verhältnisse in England zur Zeit der frühen Industrialisierung darstellt und als Pionierwerk der empirischen Sozialforschung gilt, den Grundstein gelegt für die fortan mit Karl Marx weiterentwickelte Theorie des historischen Materialismus.
Das Grundprinzip dieser bahnbrechenden Theorie ist in dem von Karl Marx und Friedrich Engels im Dezember 1847/Januar 1848 verfaßten „Manifest der Kommunistischen Partei“[5] kurz und knackig formuliert:
„Die Geschichte aller bisherigen Gesellschaft ist die Geschichte von Klassenkämpfen.“
In Klassengesellschaften sind nicht die Ideen und die Handlungen einzelner Menschen die entscheidende Triebkraft der historischen Entwicklung. Das Augenmerk muß sich auf die antagonistischen Interessen der herrschenden und beherrschten Klassen richten. Die sich aus diesem Antagonismus ergebenden Kämpfe bestimmen in der Hauptsache die historische Entwicklung.
Die von Karl Marx und Friedrich Engels entwickelte Theorie beinhaltet folgende Elemente:
1. eine historisch-materialistische Analyse von Gesellschaft, Ökonomie und Klassenverhältnissen; 2. eine hierauf gestützte Theorie der Politik; 3. eine politische Praxis mit dem Ziel der Überwindung des Kapitalismus.
Kernelemente des Marxismus sind empirische Sozialwissenschaft, historischer Materialismus und Kritik der politischen Ökonomie.
Die materialistische Geschichtsauffassung geht davon aus, daß das gesellschaftliche Sein, in dessen Zentrum die Eigentums- und Produktionsverhältnisse stehen, in der Hauptsache – aber nicht ausschließlich! – das gesellschaftliche Bewußtsein prägen.
Der kritische Denker
In seinen späten Lebensjahren hat Friedrich Engels eindringlich vor einer Dogmatisierung des von ihm und Karl Marx entwickelten Theoriewerkes gewarnt. So schrieb er im Jahr 1890 in einem Antwortbrief an Joseph Bloch[6], ein in Königsberg wohnender Sozialist und Zionist, der ihm kritische Fragen zur marxistischen Theorie gestellt hatte:
„Nach materialistischer Geschichtsauffassung ist das in letzter Instanz bestimmende Moment in der Geschichte die Produktion und Reproduktion des wirklichen Lebens. Mehr hat weder Marx noch ich je behauptet. Wenn nun jemand das dahin verdreht, das ökonomische Moment sei das einzig bestimmende, so verwandelt er jenen Satz in eine nichtssagende, abstrakte, absurde Phrase. Die ökonomische Lage ist die Basis, aber die verschiedenen Momente des Überbaus – politische Formen des Klassenkampfs und seine Resultate – Verfassungen, nach gewonnener Schlacht durch die siegende Klasse festgestellt usw. – Rechtsformen, und nun gar die Reflexe aller dieser wirklichen Kämpfe im Gehirn der Beteiligten, politische, juristische, philosophische Theorien, religiöse Anschauungen und deren Weiterentwicklung zu Dogmensystemen, üben auch ihre Einwirkung auf den Verlauf der geschichtlichen Kämpfe aus und bestimmen in vielen Fällen vorwiegend deren Form. Es ist eine Wechselwirkung aller dieser Momente, worin schließlich durch alle die unendliche Menge von Zufälligkeiten (d.h. von Dingen und Ereignissen, deren innerer Zusammenhang untereinander so entfernt oder so unnachweisbar ist, daß wir ihn als nicht vorhanden betrachten, vernachlässigen können) als Notwendiges die ökonomische Bewegung sich durchsetzt. Sonst wäre die Anwendung der Theorie auf eine beliebige Geschichtsperiode ja leichter als die Lösung einer einfachen Gleichung ersten Grades.“
Der Visionär
Friedrich Engels hat nie aufgehört jede einmal erreichte Feststellung wieder kritisch in Frage zu stellen und sich neueren Erkenntnissen zu öffnen. So erwog er z. B. in seiner letzten Lebensphase, entgegen vorherigen Annahmen, die Möglichkeit eines friedlichen Übergangs zum Sozialismus. Damit antizipierte er die heute in der radikalen Linken breit akzeptierte These, wonach ein sozialistischer Transformationsprozeß in den entwickelten kapitalistischen Ländern, in denen sich während Jahrzehnten eine komplexe Zivilgesellschaft herausgebildet hat, die zivilisatorischen Errungenschaften der repräsentativen Demokratie und des Rechtsstaates weitestgehend erhalten und ausbauen muß, gemäß den sozialen und politischen Interessen der subalternen Gesellschaftsklassen und -schichten.
„Man kann sich vorstellen, die alte Gesellschaft könne friedlich in die neue hineinwachsen in Ländern, wo die Volksvertretung alle Macht in sich konzentriert, wo man verfassungsmäßig tun kann, was man will, sobald man die Majorität des Volks hinter sich hat: in demokratischen Republiken wie Frankreich und Amerika, in Monarchien wie in England, wo die bevorstehende Abkaufung der Dynastie tagtäglich in der Presse besprochen wird und wo diese Dynastie gegen den Volkswillen ohnmächtig ist.“[7]
Einen Königsweg zum Kommunismus haben Karl Marx und Friedrich Engels uns nicht überliefert. Jede Generation ist gefordert, die Wege zum Kommunismus entsprechend den konkreten historischen Bedingungen neu zu erforschen. Die theoretischen Instrumente, die Friedrich Engels und sein Freund und Kampfgefährte Karl Marx uns vererbt haben, sind bei dieser Erkundung unverzichtbar!
In diesem Sinne: Happy Birthday, Friedrich Engels!
[1] Online-Festveranstaltung der Rosa-Luxemburg-Stiftung:
https://www.rosalux.de/mediathek/media/element/1388?cHash=a1ca2154cb71147b103e4002fdd541e3
Podcast über Leben und Werk Friedrich Engels:
https://www.rosalux.de/rosalux-history
[2] Marx-Engels-Werke, Bd. 36, S. 218.
[3] https://www.rosalux.de/mediathek/media/element/1388?cHash=a1ca2154cb71147b103e4002fdd541e3
[4] http://www.mlwerke.de/me/me02/me02_225.htm
[5] http://www.mlwerke.de/me/me04/me04_459.htm
[6] Marx-Engels-Werke, Bd. 37, S. 463-464.
[7] F. Engels, Kritik des SPD-Programms von 1891, Marx-Engels-Werke, Bd. 22, S. 234.